Tagebuch

20. Oktober 2025

Für junge Leute heißt es „Feiern“, wenn sie ekstatisch zu musikähnlichen Geräuschen hopsen und die Arme schwenken. Dazu muss das Licht derart flackern, dass Filmaufnahmen davon mit einer Triggerwarnung versehen werden: Flackerndes Licht. Das kommt mittlerweile fast so oft wie Gewalt, Rauchen oder sexuelle Inhalte. Das wiederum sind Nanosekunden im amerikanischen Film, in denen man ein nacktes Schulterblatt geahnt weiblichen Körpers sieht. Das Land der unbegrenzten Verklemmungen. Aber sie haben während der Berlin-Blockade Freiheit über uns abgeworfen oder so ähnlich. Vor 150 Jahren wurde Georg Bernhard geboren, lange Chefredakteur der Vossischen Zeitung, ein großer Journalist. Es gibt eine von den weiß-blauen Berliner Gedenktafeln für ihn in der Kleiststraße 21, Berlin-Schöneberg. Da man die Vossische Zeitung online lesen darf, wenn man weiß, wie es geht, ist es leicht, dort nach Beiträgen von ihm zu suchen. Er starb 1944 in New York.

19. Oktober 2025

Manchmal finde ich in der Zeitung eine ganze Seite von Christoph Hein und es ist gar nicht von Christoph Hein. Jedenfalls nicht von dem Christoph Hein. Es ist von dem anderen. Der auch Bücher schreibt und es offenbar nicht komisch findet, seinen Namen mit einem namhaften Autor zu teilen, weil er sich selbst für einen namhaften Autoren hält. Also dieser Christoph Hein hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Unsere Wirtschaft neu denken“. Kostet 22 Euro. So ein Buch würde Christoph Hein nie schreiben. „Das Narrenschiff“ hieß sein Buch, ein Titel, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Sein Buch „Der fremde Freund“ hieß seinerzeit im Westen „Drachenblut“, weshalb die im Westen tatsächlich glaubten, es hieße „Drachenblut“. Die Zeitungsseite von Hein steht im Wirtschaftsteil, was für den anderen verwunderlich wäre. Im Wirtschaftsteil großer Zeitungen erscheinen Schriftsteller sonst nur, wenn sie sieben- oder achtstellige Umsätze machen.

18. Oktober 2025

Junge Welt ist keine gekommen am Mittwoch, ich übe Verzicht. Mit „Der See“ bin ich nunmehr beim fünften Gedichtband von Jens Gerlach angelangt. Ellenlange Angelanleitungen würde ich schon in Prosa ungern freiwillig lesen wollen, als Gedichte getarnt machen sie mich ratlos. Nicht besser ist das Autofahren als Gegenstand von Lyrik, soweit Öldruckkontrollgerät oder die Kraftstoffanzeigemarkierungen einbezogen werden. Früher wurde der gelernte Ingenieur Peter Gosse (Jahrgang 1938) immer mal wieder gelobt, weil er dergleichen Vokabular in die Lyrik einbrachte. Ich besitze neben dem Poesiealbum 252 immerhin zwei Bücher von ihm: „Mundwerk“ und „Erwachsene Mitte“. Ob Gerlach ihn anregte, weiß ich nicht. Es zeigen sich keine Symptome posturlaublicher Behustungsstörungen, die Klimaanlage war diesmal nicht schuldfähig. Es ist der bundesweite Tag des Grabsteins heute, den gibt es seit 2018, Heinz Knobloch hat keine Aktie daran.

17. Oktober 2025

Nun fehlen nur noch 45 Übernachtungen jenseits der gesamtdeutschen Grenzen, bis ich sagen kann: Ich habe nach dem Plumpsen der Mauer drei volle Jahre im Ausland verbracht. Nichts, worauf man stolz sein muss, etwas, worüber man sich freuen kann. Wobei wir es nie auf die Galapagos-Inseln bringen werden, vielleicht schaffen wir es noch auf die liparischen oder bis Korsika. Unser Bus-Team überraschte uns heimwärts mit einem Halt am Autohof Hilpoltsein, wo es eine Confiserie mit Patisserie gibt und deswegen ungeahnte Leckereien. Wir gönnten uns was und bilanzierten eine Geburtstagsreise mit toller Badausstattung, völlig dichtem Waschbecken, was jedem Etiketten-Sammler das Herz höher schlagen lässt, denn er muss keine leeren Flaschen mit nach Hause schleppen. Ich finde selbst im Weinland Italien immer noch neue Biere. 21:18 Uhr melden wir der Familie die Heimkehr und das beginnende Kofferauspacken. Erste Gedanken zu 2026: Kroatien?

16. Oktober 2025

Gut, dass wir auf den Ausflug nach Riva del Garda mit Schiffffahrt nach Limone nicht verzichteten. Selbst Limone war nett, obwohl wir dort wirklich schon alles kannten. Ein Limoncello Spritz mit Seeblick geht immer. Aber Riva sahen wir, als wären wir nie dagewesen. Fuhren mit der Seilbahn nach oben, erklommen oben alles Erreichbare, schauten herunter und entdeckten dann eine Altstadt, von der wir keine Ahnung hatten. Ich erinnere mich nur eines Sechser-Weinträgers aus Plaste, in dem ich die neuen Biere transportierte 1993, als wir von Nago aus dort waren. Sowohl von Garda aus als auch von Torri del Benaco her schien es uns zu weit bis Riva und zu wenig attraktiv. Welch ein Irrtum. Drei Mitreisende verpassten in Limone das Schiff, das natürlich nicht wartet. Es waren die üblichen Verdächtigen, die immer spät oder zu spät kommen und mit ihrem Unschuldsblick danach in jedem Sommertheater auftreten könnten. Und morgen geht es schon wieder heimwärts.

15. Oktober 2025

Vor 30 Jahren sahen wir erstmals Vaduz, die Hauptstadt Liechtensteins, später waren wir noch zweimal dort, zuletzt 2002 von Wildhaus in der Schweiz her. Heute Freizeit, die am Ende 17.853 Schritte einträgt. Wir laufen am Levico See fast bis zum Ende und wieder zurück, eine Umrundung wäre dann doch zu viel geworden. Im Centro sitzen wir mit Lugana und Salami, neben uns einer aus unserem Bus, der nicht verstehen kann, warum eine bestimmte Sorte Augustinerbräu hier nicht angeboten wird, die es doch „bei uns“ überall gibt. Typen wie ihn gibt es bei uns noch häufiger als das Augustinerbräu, sie machen uns beliebt in vielen Ländern. Heute sehen wir auch die Kirche von innen. Verblüffend riesig für solch kleinen Ort. Gedacht wird im Oktober noch immer Rina Frisanco, die ihren 101. Geburtstag knapp verfehlte, sie starb am 12. Mai. Das Eis in Levico Terme ist schwer schlagbar, der ältere Herr, der es verkauft, sieht immer noch aus wie vor drei Jahren.

14. Oktober 2025

Dies der Tag, um den sich die Reise gruppiert. Reiseleiterin Sabine hat das Datum erkannt, fragt aber vor der Bekanntgabe im Bus. Es gibt ein Präsent und später im Hotel sogar noch Secco für alle. Vorher aber sind wir in Trento, der Stadt, die heute noch auf das Konzil stolz ist, mit dem der Fehlversuch unternommen wurde, die gespaltene Kirche wieder zu einigen. Trento ist eine Stadt überraschender Schönheit, wir haben großes Glück mit der Stadtführerin, Pech mit geizigen Frauen, die kein Trinkgeld geben und sich sogar deshalb streiten. Zum Lugana für magere 4 Euro gibt es verblüffend viel Baguette mit ebenfalls magerer Mortadella. Danach die Ferrari Sektkellerei. Keine Verwandtschaft mit Ferrari, der Name sei in Italien wie Rosso und Bianco verbreitet. Wir kosten natürlich nicht die Sorte, von der die Flasche 1100 Euro kostet, doch auch der für 22 Euro ist von edler Güte. Besser reich und gesund als arm und krank, es bewahrheitet sich in vielen Situationen.

13. Oktober 2025

Kleine Seenrundfahrt: Levico-See und Caldonazzosee. Stellen, wo ein Bus halten kann für einen Fotostopp, sind rar. Mehr Zeit haben wir in Pergine Valsugana, wo es einen Kreuzgang gibt, der vor allem Beato Carlo Acutis gewidmet ist und in die Welt der Wunder einführt. Karten zeigen, in welchem Land welche Wunder sich wo ereigneten. Erkenntnis für Deutschland: Die Wunder sind auf katholische Gegenden fixiert, sie lieben zum Beispiel Bayern, die Fläche der einstigen DDR ist von Wunderarmut gebeutelt. Nur Wilsnack in Brandenburg tanzt aus der Reihe. Weil wir zeitig wieder im Hotel sind, können wir zum Ortskern von Levico laufen, sehen beide Hotels, in denen wir 2022 übernachteten. Eins ist jetzt ein Family Hotel, das andere geschlossen und tot. Corona wie vielerorts offenbar. Wir laufen von oben durch den langgezogenen Park bis zum See, herrlicher Herbst mit Farben vor Blau. Berge im Hintergrund, dafür wurden früher Kitschpostkarten erfunden.

12. Oktober 2025

Mit diesem Busfahrer Frank sind wir schon in Sardinien gewesen und zuletzt in Ungarn. Er fährt gern eigene Strecken und es sind immer gute Entscheidungen. Wir vermieden mit ihm einige Staus, fuhren durch München, wo andere außen herum rollten. Er bevorzugt Garmisch-Partenkirchen, es ist eine hübsche Strecke. Levico Terme kennen wir von zwei Zwischenübernachtungen von der Rom-Reise 2022, jetzt kommen fünf Übernachtungen hinzu. Für Italien ergibt das dann 222, sieben weitere in Venedig 2026 sind schon gebucht. Die Überraschung vor Ort: Wir haben Zimmer 114 mit Balkon und einer Duschkabine mit gläsernen Wänden. Klarglas, nicht Milchglas, also volle Sicht. Die meisten tragen es mit Fassung, die vielen alten Paare wissen, wie sie aussehen, wenn sie nichts anhaben, es gibt aber unter allein reisenden Frauen auch die Stimme: So gut kennen wir uns wieder nicht. Nahe am Hotel ein Supermarkt zum Einkauf des Balkonweines, Kühlschrank ist vorhanden.

11. Oktober 2025

Der 97. Geburtstag meiner Mutter fällt zusammen mit dem 200. von Conrad Ferdinand Meyer. Noch immer wartet „Engelberg“ darauf, zu Ende gelesen zu werden. Nicht weniger als fünf Meyer-Bücher liegen direkt vor meiner Nase unterm Bildschirm, drei davon zu Ende gelesen, zwei warten noch. Mein Zeitungspacken ist heute wegen der Buchmesse dick und teuer, immerhin ist alles da, was ich haben wollte. Ich bestelle für kommende Woche nur die Junge Welt, die mit ihrer Beilage regelmäßig weit weg ist von dem, was sie wohl als Mainstream verstehen. Freilich liest die Bücher, die sie bejubeln, niemand außer ihnen selbst und ihrem radikalen Fanblock. Da wir morgen bereits um 4.20 Uhr am Busbahnhof sein müssen, nehmen wir uns vor, nichts bis auf den letzten Moment zu verschieben. Koffer fertig, Reiseverpflegung im Kühlschrank, alles kontrolliert. Wir vergessen immer irgendetwas. Möge es zur letzten Reise 2025 nichts Wichtiges sein. Wecker sind gestellt.

10. Oktober 2025

Nach dem ungarischen Literatur-Nobelpreis gestern (László Krasznahorkai) heute der für Frieden doch nicht an Donald Trump, sondern an Maria Corina Machado. Den einen kenne ich ein bisschen, die andere gar nicht. Vom einen kamen Romane auf kleine Bühnen in Thüringen und auf die große der Staatsoper in Berlin. Ich frage gar nicht erst lange, was Romane auf Opernbühnen zu suchen haben. Brecht wollte einst das Kommunistische Manifest in Lyrik verwandeln, einige Schriftsteller im Kleinstaat DDR widmeten sich der Herausforderung, Parteitagsthesen in nichtantagonistische Konflikte schaffender Werktätiger aus der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Bauern zu übersetzen. So hatten wir phasenweise schon eine sozialistische Menschengemeinschaft in der Literatur, die im Leben noch nicht einmal zur frühsozialistischen Hausgemeinschaft hatte gedeihen wollen. Immerhin: sowohl meine Eltern in Gehren als auch ich führten kurzzeitig das Hausbuch.

9. Oktober 2025

Mit heutigem Donnerstag erreiche ich Seite 205 in „Alte und neue Berliner Grabsteine“, nachdem ich Anfang September beschlossen hatte, dieses Buch wie ein unbekanntes zu lesen, obwohl ich „Berliner Grabsteine“ schon kannte. Doppelt hält besser, ist das Motto, zumal die erweiterte West-Ausgabe ja keineswegs einfach nur nachträgt, was neu hinzukam seither. Den Friedhof Herbert-Baum-Straße 45 kenne ich inzwischen selbst ganz gut. Isidor Kastan bekam seinen Vornamen, der seinem Kollegen Engel vom schreibenden Grabstein-Wanderer vorenthalten wurde. Der Satz am Ende meines Lektüre-Happens stammt von Karl Werder, der einst Professor war: „Das Schönste, was ein Mensch hinterlassen kann, ist, dass man lächelt, wenn man sich seiner erinnert.“ Karl Friedrich Werder war ein Hegelianer in Berlin. Lächelt jemand bei Hegelianern? Einer hieß Karl Marx ohne Friedrich dazwischen. Da lächeln dann doch einige, die seinen Frühschriften huldigten.


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